Wichtigste Schaffensphasen
Farbfallbilder
„Aus dem statischen Ausgangsquadrat hervorgehend, entwickelt die Farbe eine Eigendynamik, die sich zu einem scheinbar irrationalen Formgebilde verwandelt.“11
Joachim Heusinger von Waldegg
Befragt nach ihren Lieblingsbildern, sprechen sich die meisten Rave-Fans für die sogenannten „Farbfallbilder“ aus. Wenn Rave ein Markenzeichen hätte ausbauen wollen, wären es diese Werke gewesen. Rave verstand die Farbfallbilder als Serie, in der Farben und Formen durch Drehungen, Spiegelungen und Veränderungen der Blickachse innerhalb eines definierten Koordinatensystems alle Möglichkeiten erproben, die sich ihnen bieten. Sein Ziel: durch dieses Spannungsverhältnis eine subjektive, irrationale und räumliche Wirkung zu erzielen.
In den 1960ern, als strukturalistische Tendenzen aktuell waren, beschäftigte sich Rave eingehend mit Op-Art und Kinetik und malte sogenannte Treppen-, Farbmengen- und Streifenbilder. Sie wirken rückblickend wie Vorarbeiten, die nötig waren, damit die Farbfallbilder ab 1969 entstehen konnten. Einige von ihnen erweisen sich als Hommagen an Raves konstruktiv-konkrete Vorgänger Mondrian, Malewitsch, van Doesburg, Moholy-Nagy oder Bill.
Sauber und akkurat, mithilfe von Bleistift und Lineal, zeichnete Rave die geometrischen Formen vor. Ebenso präzise malte er sie aus, mit eigens dafür hergestellter Eitempera: Ei, Öl, Terpentin, Wasser und farbintensiven Pigmentpulvern. Obwohl es gerade bei Tempera schwer ist, den Ton zu treffen – sie ist aquarellartiger und damit durchscheinender – bevorzugte Rave diese traditionelle Technik. Er konnte damit seiner Leidenschaft für präzise Mischungsverhältnisse, Abstände und Dichtegrade nachgehen.
Eine kleine Farblehre kann man in jedem Farbfallbild entdecken, oder eine Art eigenständigen Organismus, den Rave methodisch, nach streng rationalen, mathematischen Gesetzen entstehen ließ. Mit der Form brachte Rave die Farbe in ein formales Gerüst, damit der Betrachter ihrer Entwicklung und Eigendynamik folgen kann. Hierzu legte er jedem Bild ein „formulierbares Farb-Form-System“ zugrunde. Es basiert darauf, wie die Formelemente geschichtet, verschoben und gestaffelt sind. Die Entwicklung von Farbe und Form erweist sich somit nicht als Zusammenfügen von Einzelelementen, sondern als „folgerichtiger Formwandel“.
„Folgerichtig“ ist ein gutes Stichwort, denn die Fallbilder können aufgrund ihrer innewohnenden Gesetzmäßigkeit als „richtig“ gelesen oder – was einem Künstler mit weniger Sorgfalt hätte passieren können – als „falsch“ entlarvt werden. Wer mag, kann also eine Beweisführung antreten, die auf den rationalen Gesetzen beruht. Von einem geometrischen Ausgang, beispielsweise einem Quadrat aus, lenkt ein Bewegungsmoment die Wahrnehmung des Betrachters. Die Leserichtung führt ihn eine Bewegungslinie entlang, sodass er entdeckt, wie auf dynamische, dialektische Weise neue geometrische Farbelemente entspringen, die wiederum erneut geometrische Farbelemente hervorbringen.
Der Prozess, in dem Formen und Farben ineinander übergehen, offenbart eine der Erkenntnisse der Konkreten Kunst: Farbe ist dynamisch und rational nicht fassbar. Sie ist abhängig von der Form. Sie lässt sich nicht benennen, sondern nur im Verhältnis zu einer anderen Farbe definieren – oder schlichtweg sinnlich erfahren.
Die Gruppe Panda
„Da war ein Mann mit dem ‚teuflischen‘ Gesicht, die männliche Frau mit dem Bart, der äffische Mensch. So kam hinter dem Realismus etwas surreal Groteskes zum Vorschein, das subjektiv wurde, wie alle Angst und alles Unbehagen. So wurden die ‚Passanten‘ auch zu Anklagenden der Schwächen unserer Gesellschaft (…).“12
Heidrun Wirth
Horst Rave und Margarete Loviscach durchbrachen nicht nur durch ihre Lebensweise die gängigen Stilkonventionen, sondern auch ab 1970 gemeinsam in ihrer Kunst. Die Arbeiten ihrer „Gruppe Panda“ zeugen von einer Synthese ihrer Stile, Temperamente und Erfahrungen, vorwiegend in präzise konstruierten, veristischen Bonner Stadtansichten.
Loviscach zeichnete sehr fein mit Bleistift auf Papier. Zwei gesellschaftskritische Themen dominierten ihr Werk: zum einen die Beziehungslosigkeit unter den Menschen und die Anonymität des Einzelnen in der Gesellschaft. Hier spielten sicherlich die Ängste und die Not, die sie während der NS-Zeit ausstehen musste, mit hinein. Zum anderen malte sie, obwohl sie ein friedliebender Mensch war, gewaltvolle, sexuelle und auch traurige Bilder, darunter miteinander ringende Leiber, sinnliche Körperformen oder Menschen, die ohne Halt in die Tiefe stürzen. Ein Selbstbildnis zeigt sie mit einem Revolver in der Hand. (Diese Bilder haben ihre Kinder und Enkel erst nach ihrem Tod gesehen.)
Wie war die künstlerische Zusammenarbeit von Loviscach und Rave entstanden? Womöglich aus ihrer Experimentierfreude heraus. Ende der Sechziger beispielsweise drehte das Paar eine Art Trickfilm. Mit einer Super 8-Kamera, die sie an die Decke von Raves Atelier hängten, filmten sie Bildabschnitte ab, die sie vorher auf den Boden gelegt hatten. Das Ergebnis nannten sie Die Katze, die keine Orangen frasz. Der Film wurde 1968 im Programm der ersten Hamburger Filmschau gezeigt, wie die Sonderausgabe der Zeitschrift FILMARTIKEL dokumentiert.
Die präzise konstruierten Gemälde der Gruppe Panda sind geprägt von einem gesellschaftskritischen Blick, überwiegend auf die Bonner Stadtlandschaft: Sie zeigen Personenszenen, Landschaftsdarstellungen, einzelne Porträts, Selbstporträts und Stadtansichten. So fotografierten Loviscach und Rave beispielsweise in der Rheinaue Menschen und Hunde, die sich ähnlich sahen, und malten sie (Herr mit Hund). Die Arbeiten wirken übertrieben und bizarr, orientieren sich jedoch an der Realität.
Mit ihrem Werk Südbrücke (1973/74) feierten sie einen großen Erfolg: Für das Treppenhaus des Rheinische Landesmuseums konnten sie ein sehr großes Triptychon beisteuern, das eine Detailansicht der Verkehrsführung der gerade gebauten Bonner Südbrücke zeigt. Loviscach und Rave hatten die Brücke mit einer Canon AE1-Kamera in schwarz-weiß aus verschiedenen Winkeln abfotografiert und die Filme selbst entwickelt. Skizzen und feine Vorzeichnungen mit Bleistift waren ebenso entstanden wie das eigens kreierte Farbpulver für die Betonteile „Südbrückengrau“. Die Arbeit, die so groß ist, dass sie erst vor Ort zusammengesetzt werden konnte, besteht aus zwölf einzelnen 1m x 1m-großen Leinwänden – was für Raves außergewöhnliches räumliches Vorstellungsvermögen spricht.
Mit der Arbeit Promenade in Beuel, Hommage à Seurat (1975) reihte sich Rave in die Ahnenreihe seiner künstlerischen Haltung ein. Auch die strenge Konstruktion der Arbeit verweist auf den französischen Maler Georges-Pierre Seurat (1859–1891), der zu einem der wichtigsten Vertreter des Pointillismus zählt. Zu sehen ist eine Rheinlandschaft, dieses Mal die Promenade am Beueler Ufer. Der Stock eines Spaziergängers deutet auf einen alten Herren, der auf einer Bank sitzt. Dieser entpuppt sich als der Maler Leo Breuer; seine Frau Annie steht daneben. Die Atmosphäre wirkt zunächst entspannt, die Farben harmonisch. Dann jedoch fallen die balgenden Jungs auf, die zeigen, dass es unter der Oberfläche brodelt.
Kunst im öffentlichen Raum
„Seine Arbeiten im öffentlichen Raum (…) stellen auf ihre Weise sein außergewöhnliches und charakteristisches Talent ganzheitlichen Sehens (mit den Parametern Ort, Werk und Raum) unter Beweis.“13
Hans M. Schmidt
Konkrete Kunst ist so offen, dass sie auch den öffentlichen Raum einbeziehen kann. Hierfür schuf Horst Rave unorthodoxe Arbeiten, die sich mit der Architektur vor Ort nahtlos verbanden. Stets schaffte er es, dass sich die Wahrnehmung des Betrachters oder zufälligen Entdeckers verschob, und schenkte demjenigen damit eine neue Perspektive. In den Siebzigerjahren beispielsweise schuf er für das Treppenhaus der Sparda-Bank in Saarbrücken eine Rauminstallation, die mit Licht und Schatten spielt.
1984 leisteten elf Mitglieder der Künstlergruppe gruppe konkret Beiträge zum Projekt der Bonner Kunstwoche „Mikrostrukturelle Gestaltung am Bau nach der Architekturlehre von Bruno Taut“. Ziel war es, Kunst so an öffentliche Gebäude anzubringen, dass man sie erst auf den zweiten Blick bemerkte. Horst Rave nahm sich die drei grauen Pfeiler aus Rohbeton des Stadthauses vor, die sich vom ebenfalls grauen Gebäude kaum unterscheiden. Die Ornamentik alter Säulen im Sinn, die optisch unterstreichen, dass ein Stockwerk auf ihnen ruht, brachte er konstruktivistische Kapitelle an den Pfeilern an: Die durch Form und Farbe gegliederten Styroporkuben schlossen diese oben ab – immer kleiner werdend, die Farbe nach oben hin an Intensität verlierend. Selbstverständlich setzte Rave sie, mit seiner üblichen Liebe zur Perfektion, handwerklich selbst um.
Zwei Jahre später entstand eine monumentale Auftragsarbeit für das damalige Bundespostministerium, das heute das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist: Das Wandbild über Gelb (1986/87) gilt als herausragendes Beispiel für Raves Farbräume. Mithilfe eines Kontaktes zum Landesvermessungsamt errechnete Rave mittels eines PCs die geometrische Linienführung der Grafik so, dass sie die Architektur optisch verändert. Ihre eigentliche Form, eine Conche, nimmt das Auge nicht mehr wahr.
Den Betonpfeilern der Oper Bonn widmete sich Rave 1989. Er dekonstruierte die Stützen des Eingangs, indem er sie ummantelte. Einer der äußeren Pfeiler leuchtete nun in intensivem Orange, sein Gegenpol in blassem Gelb. Die anderen beiden Pfeiler zeigten sich in Zwischentönen. Gleichzeitig veränderte Rave auch ihre Form. Einer der Pfeiler sah aus, als hätte er sich um 45 Grad gedreht und schaue auf die anderen drei. Der zweite hatte sich etwas weniger im Vergleich zu seiner Ursprungsform verändert, der dritte kaum. Der vierte wiederum wirkte schmaler als zuvor. So entstand eine optische Täuschung – als stehe das obere Geschoss der Oper auf schiefen Beinen, anstatt sich auf seiner üblichen Statik auszuruhen.
Indem Rave die Architektur als konstitutives Element seiner Arbeiten einbezog, überwand er die Vorstellung, dass ein Einzelbild stets isoliert gezeigt werden muss. Seine Werke im öffentlichen Raum befinden sich u. a. im Bonner Bundesministerium Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (ehemaliges Postministerium) und in der Sparda-Bank in Saarbrücken.
Computergenerierte Arbeiten
„Horst Rave, stets ein Suchender, ein Untersuchender, vertraut nicht auf den schöpferisch-einmaligen, großen Wurf; er folgt nicht dem Kult origineller Erfindung. Vielmehr setzt er mit seiner vom Computer ermöglichten ars combinatoria auf dessen Gesetze und seine Findungen (…).“14
Hans M. Schmidt
Könnte nicht ein Computer die Versionen von Raves Kunst erledigen? Seit den Fünfzigern wurden die ersten Computer in der Kunst, beispielsweise durch Herbert W. Franke, A. Michael Noll, Frieder Nake und Georg Nees, eingesetzt. 1970 präsentierte die Biennale in Venedig „computer art“. Wo lag also der Vorteil darin, dass Rave seine Werke selbst entwarf, die Farbe selbst mischte und Bild um Bild malte, wenn doch bereits der Weg der computergenerierten Kunst beschritten worden war?
Tatsächlich sagte Rave 1975 in einem Interview: „Computer sind theoretisch bei meiner Arbeit einzusetzen, die mögliche Bereicherung wäre meiner Ansicht nach gering, da“15 – und es folgen drei Punkte, die es begründen. Zunächst berief er sich darauf, dass die Farben erst durch Physis und Haptik ihre volle Wirkung entfalteten. Weiterhin stellte Rave fest, dass die Abstände seiner gemalten Serienbilder verhältnismäßig groß seien. Ein Computer könne die Zwischenglieder errechnen, hätte aber nicht das ästhetische Empfinden, „signifikant herausragende Einzelbilder“ auszuwählen. Und schließlich, führte Rave im dritten Punkt aus, komme der Mensch schneller zu anschaulichen Lösungen als ein Computer, vor allem im Farbbereich.
Dennoch konnte Rave auf Dauer seiner Neugier auf neue Technik nicht widerstehen. 1992 gab er nach. Ein starker Antriebsmotor, diesen Weg konsequent weiterzugehen, mag gewesen sein, dass er ein Jahr zuvor den Kunstpreis der Stadt Bonn erhalten hatte. Er bestückte sein Atelier mit einem PC und einem großen Drucker. „Wenn er noch leben würde, hätte er jetzt einen 3-D-Drucker“, bemerkt Stiefenkel Lovis Wambach.
Rave war an die Grenzen der strengen Gesetze, die die Konkrete Kunst dem Künstler auferlegt, angelangt: Sie boten keine Freiheit mehr und ließen Arbeiten mechanisch wirken. Der Computer hingegen biete ihm die Möglichkeit, schrieb Rave, sich aus der „scholastischen Erstarrung und den lästigen, wiederholenden Verengungen“16 zu befreien. Ihn erwartete eine unendliche Anzahl an Möglichkeiten von Form und Farbe, die er spielerisch und mit Leidenschaft erforschte. Die Gefahr, sich darin zu verlieren, lief er nicht: Dazu hatte er zu viel Erfahrung.
Rave stürzte sich in die Arbeit mit dem Computer, der ihm „Zeit zum Experimentieren, zum Nachdenken“ schenkte und zu seinem Pinsel wurde. Wenn der Computer in minimalen Schritten Quadrate in Kreise morphte, schaute Rave gebannt zu. Er genoss die fließenden Prozesse und die Überraschungsmomente, hielt dort an, wo er einen „eigenständigen Informationswert“ oder den Bewegungsmoment mit dem höchsten Veränderungspotenzial entdeckte, und arbeitete mit dem Bild, das er „im Augenblick für gültig“ erachtete.
Zwischen 1992 und 1993 entstand eine immense Anzahl an Arbeiten, jede ein Original: Inkjetdrucke, Plotterzeichnungen und Acrylgemälde, die auf Computervorlagen basieren. Oft schuf er auch nur „Zwischenbilder“, wie er sie nannte, mit Titeln wie Rechteck und Spirale, Tondo, Dreieck – Kreis oder in Einzelfällen etwa nur Formen zueinander (alle aus 1995). Für eine Ausstellung in Bonn 1993 erzählte Rave mit 45 computergenerierten Arbeiten „Bildgeschichten“. Er machte einige Ausflüge zur Digitalfotografie und einige Vorläufer von Selfies. Eine größere Arbeit verwirklichte Rave gemeinsam mit Computerkunstpionier Georg Nees.
1999 schließlich wandte sich Rave Reliefs zu und sprengte damit buchstäblich den Rahmen, da sie nicht durch das Format der Leinwand eingegrenzt sind. Nachdem er mit dem Computer gemorphte Hieroglyphen oder Arabesken definiert hatte, ließ er sie mit Wasserstrahl oder Laser aus Stahlblech schneiden. Anschließend bemalte er es mit Acrylfarbe und brachte Metallstifte an, damit das Relief nicht direkt an der Wand anliegt. Auf diese Weise wirkt dessen komplementär andersfarbig bemalte Rückseite wie ein Farbschatten und suggeriert einen schwebenden Zustand.
Die computergenerierten Arbeiten beruhen auf vergleichbaren Konstruktionsplänen wie beispielsweise die Farbfallbilder und können entsprechend „gelesen“ werden. Titel wie Welle zum Quadrat (29.3.1995) oder Kreis und Treppe (8.8.1995) geben die Leserichtung vor. Diese Werke jedoch enthalten mehr Ebenen, wobei der Bewegungsprozess runder und weniger mechanisch ausfällt. Durch Abstufungen, Transparenzen, unscharfe Ränder und Farbverläufe wirken sie dreidimensional, manchmal gar mit einer unendlichen Tiefenräumlichkeit. Auch Spielerisches und Skurriles taucht vermehrt in Raves späteren Arbeiten auf, die er häufig „Schweinchen“ nannte.