Werk
Konstruktivismus und Konkrete Kunst
Der Konstruktivismus, eine Ausprägung der abstrakten Kunst, fand seinerseits unterschiedliche Verwirklichungen – alle mit dem Ziel, Kunst und Gesellschaft radikal zu erneuern. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten mit einbezogen werden, was sich in der Verwendung unterschiedlicher Medienformate wie Ton und Film, aber auch im Einbezug von Architektur und Technik niederschlug.
Die Künstler gingen auf die Suche nach einer klaren, universellen Sprache und überzeitlich gültigen Werten, die nicht historisch oder sozial verkleidet worden waren. Indem sie geschichtlich und gesellschaftlich etablierte Bedeutung – beispielsweise abgebildet in der figurativen Malerei, aber ebenso ganz lebenspraktisch – abzuschütteln versuchten, grenzten sie sich ab. Als Bohemiens begaben sie sich in politische Oppositionshaltung zur Gesellschaft und versuchten, deren Strukturen aufzubrechen.
Der russische Maler Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch (1878–1935) war einer der Wegbereiter des Konstruktivismus, aus dem er 1913 den Suprematismus gründete. Er beschränkte sich auf „rein malerische Formen“ wie Quadrate, Dreiecke und Kreise auf weißem Grund. Die Kunst, so stellte er fest, sollte sich selbst genügen und nichts bedeuten.
Auch in den Niederlanden fand der Konstruktivismus Anklang. 1917 gründete Theo van Doesburg (1883–1931) gemeinsam mit Piet Mondrian (1872–1944) die Künstlergruppe De Stijl. Die Künstler und Architekten wollten die Kunst „von sekundären und schädlichen Beigaben“ befreien. Sie malten senkrechte und waagerechte Linien und nutzten ausschließlich die primären Farben Blau, Gelb und Rot sowie die Nichtfarben Schwarz, Weiß und Grau.
1924 prägte van Doesburg zum ersten Mal den Begriff der Konkreten Kunst. Auch sie sollte nicht die Wirklichkeit abbilden. Anders als die Konstruktivisten jedoch bauten die konkreten Künstler ihre gegenstandslosen Werke nach Logik und wissenschaftlichen Prinzipien auf, um die Relationen von Formen und Farben zu erforschen. Ihre Kunst zeigte somit nicht mehr den individuellen Ausdruck ihres Schöpfers, sondern gehorchte universellen geometrischen Gesetzmäßigkeiten aus Linien, Formen, Oberflächenstrukturen und Farben. In ihrem Bestreben, nach dem Ersten Weltkrieg zu einer neuen Gesellschaft zu finden und unmittelbar auf das Leben der Menschen einzuwirken, setzten die Künstler ihre Ideen von Raum und Farbe auch in der Architektur um. So beispielsweise 1926 bis 1928 van Doesburg und Sophie Taeuber (1889–1943) mit dem Umbau des Straßburger Cafés L‘Aubette.
De Stijl wiederum beeinflusste das Bauhaus unter der Leitung von Walter Gropius, dessen Motto ab 1923 angeregt von László Moholy-Nagy (1895–1946) lautete: „Kunst und Technik – eine neue Einheit“. Mit den neuen Erkenntnissen der Wissenschaften hielten auch neue Materialien wie Stahl, Aluminium, Glas und Kunststoff Einzug in die bildende Kunst. Einer der Studierenden am Bauhaus war Max Bill (1908–1994), der als konkreter Künstler in den 1950er Jahren maßgeblich zur Entwicklung des Designs beitrug und sich politisch engagierte, um die Gesellschaft zu verbessern. 1944 organisierte er in Basel die erste Ausstellung Konkrete Kunst.
Die Traditionslinie der Konstruktiv-Konkreten Kunst reicht von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart. Während man jedoch im Zeitraum ihrer Entstehung von Stilen spricht, entwickelte Horst Rave, ein halbes Jahrhundert später, eher eine konstruktivkonkrete, ganzheitliche Haltung in Theorie und Praxis, die von drei Hauptmerkmalen gekennzeichnet ist: die Erforschung von Gesetzmäßigkeiten innerhalb eines Systems, das Vordringen zum universellen Kern der Kunst und der Einsatz der Kunst als geistiger und sinnlicher „Gebrauchsgegenstand“.
Horst Rave, konstruktiv-konkreter Künstler
Kunst bedeutete für Horst Rave nicht nur das Malen von Bildern, und weniger noch deren Verkauf. Vielmehr verfolgte er einen ganzheitlichen Ansatz in Theorie und Praxis: Immer wieder reflektierte Rave seine Arbeit. Wenn er nicht vor der Leinwand saß, las er theoretische Texte und didaktische Untersuchungen aus Kunstgeschichte, Literatur (er liebte Camus) und Politik. Er studierte das Werk des französischen Malers Auguste Herbin (1882–1960), der sich 1917 ausgehend vom Kubismus zum konstruktiven Künstler entwickelte. Er beschäftigte sich mit den Farbtheorien der Moderne. Er studierte seine kunsthistorischen Vorgänger des Konstruktivismus und der Konkreten Kunst, entwickelte jedoch ihre künstlerischen Errungenschaften zu eigenen Lösungen weiter. Neben seiner Konkreten Kunst schuf er figurative Arbeiten, die allerdings von konstruktiven Momenten durchwirkt waren. Sein Lebenswerk erweist sich somit als bemerkenswert vielfältig und mehrdimensional.
Befragt nach seinen Vorbildern, beschrieb er ein Bezugsfeld von Namen und damit verbundenen Ideen, auf deren Interaktion es ankomme: „Bazaine (Sanftheit). Beauvoir (Identität). Delaunay (Farbe, Dynamik). Goya (Umsetzung der Betroffenheit). Kupka (Alchimist). Léger (Synthetiker). El Lissitzky (Umsetzung ästhetischer Erfahrungen in die Umwelt). Lu Xun (Kritische Methode). Luxemburg (Mut zum Gefühl in der Politik). Malevitsch (Mystiker). Mao (Umsetzung von Erfahrung in Politik). Mondrian (Konsequenz). Picasso (Potenz). Seurat (Umsetzung von Licht).“ 4
Ebenso sorgfältig, wie Rave seine Bildideen entwickelte, setzte er seine Werke um. Er wollte solide Bilder malen, bei denen die Farbe nicht nach drei Jahren abgeht, sondern ihn überdauern. Die Kanten in seinen Aquarellen malte er immer gestochen scharf. Eigenhändig mischte er alle drei Tage neue Tempera-Farben und bespannte Leinwände. Stetig bildete er sich weiter, um die handwerkliche Umsetzung seiner Werke perfekt ausführen zu können. Ein Höhepunkt seines Schaffens sind die Farbfallbilder, die ab 1969 entstanden. Figürliche Zeichnungen und Ölbilder schuf er ab 1970 hauptsächlich mit seiner Lebensgefährtin Margarete Loviscach als Gruppe Panda.
Mitte der 1980er emanzipierte sich Rave endgültig von den Pionieren der Abstraktion. Er malte Transparentbilder (ab 1983), Farbräume (ab 1985) und Farbtektoniken (ab 1987). Höhepunkt letzterer war die 23-teilige Folge Farbtektoniken über den Regenbogen (1990). Einige dieser Bildtafeln, für Georg Nees sind sie „Meisterwerke“, wurden im Wilhelm-Hack-Museum ausgestellt und, vermittelt durch Hans M. Schmidt, vom Institut Humboldtstein der Arbeiterwohlfahrt in Remagen-Rolandseck für einen Sitzungsraum erworben. Außerdem erprobte er den konkreten Ansatz mit Farbkontinua, Farbkörpern, Farbverschränkungen und Farbstrahlen. Seine Arbeiten im öffentlichen Raum aus den 1980er Jahren schließen – dank seiner Fähigkeit, Ort, Werk und Raum umfassend zu begreifen – nahtlos an ihre Umgebung und das entsprechende Milieu an.
Als technischer Pionier erforschte Rave alle Medien, die ihm zur Verfügung standen. Er war immer bereit, sich praktisch mit dem neuen Material auseinanderzusetzen und es bedingungslos durchzudeklinieren. Er experimentierte mit Scherenschnitten und Blattgold. In den Siebzigern nahm er jahrelang die Badewanne in Beschlag, um sich intensiv mit Siebdruck auseinanderzusetzen. Über den Lebensgefährten seiner Schwester bekam er Zugang zur Wasserstrahltechnik, mit der man nicht nur industrielle Bleche oder Stahlbauteile, sondern natürlich auch künstlerische Reliefs scheiden kann.
Wenn Rave eine Technik beherrschte und sie künstlerisch auf den Punkt gebracht hatte, ging er über zur nächsten, unternahm Ausflüge mit anderen Materialien, zu anderen Kunstrichtungen, beispielsweise ins Figurative, und scheute auch nicht davor zurück, sich auf eine neue Technologie einzulassen und computergenerierte Arbeiten zu schaffen. So spiegelt seine Kunst die technische Entwicklung des späten 20. Jahrhunderts wider.
Vergleichbar mit einer Ballerina, die hartes, kräftezehrendes Training durchgestanden hat, damit ihre Bewegungen auf der Bühne leichtfüßig aussehen, löste sich Rave in seinen letzten Schaffensjahren von seiner strengen Systematik. Christoph Schreier schreibt: „Gerade seine späten Reliefs (erlangen) eine Lebendigkeit und souveräne Leichtigkeit, um die der strenge Systematiker, der Horst Rave war, lange ringen mußte.“ 5
Unter dem Dach der Bürgerstiftung Bonn wurde schließlich aus einem Teil seines Vermögens und seinem künstlerischen Lebenswerk die Horst Rave Stiftung gegründet. Obwohl Rave bereits zu Lebzeiten akribisch Werkverzeichnisse mit kleinen Fotografien führte (deren Originale heute im Rheinischen Archiv für Künstlernachlässe im Bonner 5 Wagner, Jan (Hg.), Horst Rave. Zur Gründung der Horst Rave Stiftung, Bonn 2010, S. 22. Stadtarchiv gelagert sind), sollte sein künstlerisches Lebenswerk nach seinem Tod erhalten, katalogisiert, archiviert, wissenschaftlich erforscht und nicht zuletzt bekannter gemacht werden. Gleichzeitig war es ihm ein Anliegen, dass die Konstruktiv-Konkrete Kunst gefördert wird. Die Stiftung verfügt über einen unverkäuflichen Kernbestand aus etwa 200 bis 300 seiner Werke. Die restlichen Arbeiten stehen zum Verkauf.
Rave auf dem Kunstmarkt
Horst Rave war in Bonn verwurzelt. Hier konzentrierte er sich unermüdlich auf sein Schaffen und strebte hauptsächlich danach, seiner Arbeit neue Tiefe zu verleihen. Nur in jungen Jahren bewarb er sich für Ausstellungen, was zu dieser Zeit aufwendig und teuer war – zumal Rave auch dann die Regel übertraf: Statt seine Arbeiten im üblichen Diaformat fotografieren zu lassen, entschied er sich für das teurere Mittelformat 6 x 9. So konnte man die Dias auch ohne Gerät betrachten.
Dem Kunstmarkt war er skeptisch gegenüber eingestellt und biederte sich ihm nie an. Allerdings war er auch für den Kunstmarkt schwer einzuordnen und gelangte demnach, trotz seines außergewöhnlichen Werkes, nie zu Berühmtheit. Aufgrund seiner kontinuierlichen und vielseitigen Entwicklung kreierte Rave keinen öffentlichkeitswirksamen Markenartikel mit Wiedererkennungswert. Dennoch zeugt sein Werk von überregionaler Qualität, das einen eigenständigen Beitrag zur Konkreten Kunst leistet.
Zum ersten Mal wurden seine Bilder 1969 in der Bonner Galerie Schütze gezeigt; 1972 dann in der Münchner Galerie Dürr. 1973 nahm er an der Ausstellung im Bonner Kunstverein über die Entwicklung des Konstruktivismus von 1913 bis 1973 teil. Die Galerie Circulus, geleitet von der Künstlerin Marianne Pitzen, zeigte ab 1980 regelmäßig seine Arbeiten. Hinzu kamen Einzel- und Gruppenausstellungen, auch im Ausland, vor allem in den Niederlanden.
Raves Arbeiten sind in bedeutenden Sammlungen der Konkreten Kunst vertreten. Zum einen werden ein Würfel und ein Farbfallbild in der größten Sammlung Konkreter Kunst im europäischen Raum ausgestellt: Der Sammlung Peter C. Ruppert – Konkrete Kunst in Europa seit 1945, die im Würzburger Kulturspeicher zu sehen ist. Zum anderen steht sein I. Transparentbild 1984, wie der damalige Sammlungsdirektor des Rheinischen Landesmuseums Bonn Hans M. Schmidt schreibt, in der Kollektion des 20. Jahrhunderts repräsentativ für eine „entschieden rationale künstlerische Haltung im Sinne konkreter Kunst“6. Darüber hinaus befinden sich im Forum Konkrete Kunst Erfurt Leihgaben von Horst Rave bzw. der Stiftung.