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Eine konstruktiv-konkrete Haltung

Gesetzmäßigkeiten entschlüsseln

Rave brannte dafür, die Gesetzmäßigkeiten eines Systems zu entschlüsseln. Er wollte Strukturen erforschen, um sie schließlich zu überwinden. Zu Studienzwecken beispielsweise rekonstruierte er im Bonner Frauenmuseum akribisch das Straßburger Café L‘Aubette, einst gebaut von Theo van Doesburg und Sophie Taeuber. Ebenso minutiös erforschte er Systeme und Metaebenen – sowohl in der Kunst als auch in anderen (Lebens-)Bereichen. „Alle Methoden oder Tätigkeiten, die zur Aneignung der Wirklichkeit beitragen, sind äquivalent“7, schrieb er.

Hans M. Schmidt, ehemaliger Sammlungsdirektor des Rheinischen Landesmuseums Bonn, erinnert sich an die unterschiedlichen Herangehensweisen an Ausstellungen, die sie gemeinsam u. a. in Basel, Amersfoort und Köln besuchten. Anders als der Kunsthistoriker Schmidt, der sich eingehend mit Details auseinandersetzt und gerne mit seiner Begleitung darüber spricht, raste Rave geradezu durch die jeweilige Ausstellung und scannte sie nach Formen, Farben und Strukturen. „Kenne ich nicht, interessant, kenne ich, uninteressant“, mag er dabei gedacht haben. „Meist hielt er sich an das vordergründig Sichtbare, das er auf seine Weise blitzschnell durchschaute, und darin lag dann für ihn möglicherweise auch die ganze Fülle des Geheimnisses“8, schrieb Schmidt.

Dennoch war es Rave wichtig, Kunstwerke in der Tiefe zu analysieren, um ihre Qualität auszuloten (was bei moderner Kunst oftmals ein schwieriges Unterfangen ist). 1981 und 1983 beispielsweise erarbeitete Rave gemeinsam mit Joachim Heusinger von Waldegg, Kunsthistoriker und damaliger Kurator an der Kunsthalle Mannheim, museumspädagogische Veranstaltungen. Ihr Ziel war es, dem breiten Publikum die Mehrdeutigkeit und strukturelle Vielschichtigkeit der Kunst sowie anspruchsvolle aktuelle Diskurse und neueste Ergebnisse der Forschung nahezubringen. Dafür stießen sie beispielsweise Diskussionen an über koloristische Probleme von August Mackes Tunislandschaft mit sitzendem Araber (1914) und die LichtRaum-Modulation in László Moholy-Nagys Z, IX (1924). Durch Bildanalysen vermittelten sie die Vielfalt der Bezugsebenen, in die das jeweilige Werk gestellt wurde, und Kriterien zur Einschätzung seiner Qualität: Heusinger von Waldegg die kunsthistorischen Zusammenhänge, Rave – der „analytische Kopf“ – anhand von Piktogrammen die wesentlichen kompositorischen Eigenschaften.

Auch außerhalb der Kunst interessierte sich Rave für Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, insbesondere für die des Chinesischen. Ihn faszinierte die Vorstellung, dass ein Drittel der Menschheit diese Sprache spricht und völlig anders lebt als Menschen in der westlichen Kultur. Sein Wunsch, eine Reise in das Land zu unternehmen, ging nie in Erfüllung. Jedoch waren häufig chinesische Kunstwissenschaftler zu Besuch in der Combahnstraße.

Die Brücke zwischen Sprachen und Kunst ist im Übrigen durchaus naheliegend: So studierte Rave beispielsweise eingehend das alphabet plastique (1946) des Künstlers Auguste Herbin – ein plastisches Alphabet, in dem jeder Buchstabe eine Form, eine Farbe und einen Ton erhält.

 


Kunst ist universell

Horst Rave kommentierte seine Kunst kaum, und erfüllte damit Punkt 3 der von Theo van Doesburg definierten „Grundlage der konkreten Malerei“9: „Ein Bildelement bedeutet nichts anderes als ‚sich selbst‘.“ Somit gab es in dieser Hinsicht nicht viel zu sagen. Hans M. Schmidt schrieb dazu: „Streng wie sich selbst gegenüber, war er zuweilen auch gegenüber anderen. So entstand manchmal der Eindruck von Arroganz. Alle Kunst, mochte sie noch so sehr nach den ‚Geboten‘ der Konkreten sein, in der er ‚mystische‘, d. h. kunstfremde Momente witterte, hatte bei ihm keine Chance.“10 Das Werk auf einen hintergründigen Gehalt zu überprüfen, lag Rave fern. Außerordentlich mitteilsam war er jedoch, wenn er nach Farben und Mischungsverhältnissen befragt wurde.

Punkt 1 der Grundlage lautet: „Kunst ist universell.“ Ihre Form ist „reine Malerei“ und eine eigene Sprache, die losgelöst von menschenerschaffener Bedeutung auf universellen Gesetzmäßigkeiten basiert: Linien, Farben, Flächen. Diesen ganzheitlichen, systematischen Ansatz verfolgte auch Rave. Form und Farbe, Figur und Grund treten in seinen Werken immer wieder anders in Dialog. So wurde seine Arbeit mit den Jahren von einer konstanten Dialektik durchdrungen, die sich nicht verschließt, sondern in einem offenen Prozess das Neue – darunter auch Techniken und Ausdrucksformen – willkommen heißt. Diesen Prozess hervorzurufen, nachzuvollziehen und zu erleben war das Ziel seiner Arbeit.

Raves figürliche Arbeiten lassen sich ebenfalls in diesen ganzheitlichen Ansatz integrieren. Die Spaltung der Malerei, die mit dem Aufkommen der abstrakten Malerei entstanden war, konnte bereits durch die Generation von Gerhard Richter (*1932) überwunden werden. Während die Künstler der Nachkriegszeit den Faden der Abstraktion um 1930 wieder aufnahmen, sich vom hartnäckigen Etikett der „Entartung“ lösten und den Sieg der Ausdrucksfreiheit feierten, malten sie einige Zeit später neben abstrakten Gemälden auch figürliche. Möglich war dies so schnell, da der Ansatz an sich nichts Neues war: Schon 1912 hatte Kandinsky von den zwei Polen – der „großen Abstraktion“ und der „großen Realistik“ – als zwei Wegen zum selben Ziel gesprochen. „Zwischen diesen zwei Polen liegen viele Kombinationen der verschiedenen Zusammenklänge des Abstrakten mit dem Realen“, schrieb er. Auch hier zeigt sich die Offenheit der Konstruktiv-Konkreten Kunst: Scheinbare Gegensätze können durchaus innerhalb eines Werkes zusammenfinden.

Auf spielerische Weise setzte Rave die Idee von frei kombinierbaren, universellen Elementen in seinem Beitrag zur Bonner Kunstwoche 1989 um. Er stellte mit Das quadratische Buffet (1989) das Schwarze Quadrat von Malewitsch in essbarer Variante zur Verfügung. Dessen Zutaten waren nach bestimmten Regeln zusammengefügt worden und konnten auch wieder – durch den Verzehr – zerstört werden. Hierbei ist, wie immer in der modernen Kunst, der individuelle Einsatz des Kunstkonsumenten notwendig.


Neue Gesellschaft, neue Kunst

Der Verstand ist es, der die Konkrete Kunst erschafft. Der Betrachter Konkreter Kunst jedoch kann sich dem Werk sowohl analytisch als auch – was sich Horst Rave ausdrücklich wünschte – sinnlich nähern. Weil das Werk frei ist von sozialen oder zeitgeschichtlichen Bezügen, kann er individuell seinen Empfindungen nachgehen, frei assoziieren und seinen eigenen Erfahrungshorizont einbringen. Er ist eingeladen zu einem Spiel mit Ordnungen und Systemen.

Malewitsch sagte seinerzeit, dass eine neue Gesellschaft eine neue Kunst hervorbringe. Horst Rave fügte hinzu, dass die demokratische Gesellschaft demokratische
Bildformen brauche. Das hieß nicht, dass er, der sich wie auch seine Partnerin für die SPD engagierte, die Kunst für parteipolitische Programme instrumentalisierte. Aber er war davon überzeugt, dass Malerei gesellschaftliche Phänomene widerspiegeln und sie vorantreiben kann. Er interessierte sich sehr für Bildstrukturen als Modelle für soziale Prozesse. Farben und Formen waren für ihn „eigenständige Gegebenheiten“ und die Beziehungen zwischen ihnen Modelle. Sie bilden für Rave eine Analogie für die Beziehungen
innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung. Für den technischen Pionier spiegelte Konkrete Kunst auch gesellschaftliche Prozesse wider, auch, weil sie ein Moment
des Veränderungswillens enthält. Dies steht im krassen Gegensatz zu Diktaturen, die einen Idealzustand anstreben, der, einmal erreicht, keinerlei Veränderungen mehr zulässt.

Sowohl als Mensch als auch als Künstler grenzte sich Rave ausdrücklich vom Nationalsozialismus ab. Er setzte auf das Individuum statt auf einen „Volkscharakter“. Jede Form von Gewalt und Militär war ihm zuwider. Mit dem Bonner Maler Leo Breuer (1893–1973), der während des Zweiten Weltkrieges ins Exil gegangen, schließlich interniert worden war und 1945 in Paris eine zweite Heimat gefunden hatte, tauschte er sich über politische und entartete Kunst aus. Durch Breuer kam Rave in Berührung mit abstrakter französischer Malerei und erfuhr von ihm sowohl menschliche als auch künstlerische Unterstützung. Er dankte es ihm mit mehreren künstlerischen Hommagen.

Wie können „demokratische Bildformen“ nun aussehen? Moderne Kunst ist in besonderem Maße Reflexionskunst. Sie ist kein Fertigprodukt, sondern ein visuelles Angebot, das einen Anspruch an den Betrachter stellt. Sie provoziert ein emanzipatorisches Spannungsmoment: Indem der Betrachter die Kunst auf individuelle Weise wahrnimmt, erfährt er etwas über die (seine) Welt und erschließt einen neuen Erkenntnishorizont. Damit wird er zum Mitschöpfer des Werkes. Er entwickelt eine Haltung und wird, im weitesten Sinne, zum mündigen Bürger. Max Bill spitzte es zu: Konkrete Kunstwerke seien „Gegenstände zum geistigen Gebrauch“. Horst Rave fügte hinzu: „Bilder sind Gegenstände für den sinnlichen Gebrauch.“ Kurz gesagt: Das Werk ist nur vollständig, wenn der Betrachter aktiv dazu beiträgt. Folglich ist ein Werk niemals dasselbe, sondern stets Teil eines individuellen Bekenntnisses.

Autorin: Anke Ernst, www.anke-ernst.net